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Der Hagenstein

Etwa 125 Meter hoch steigen zwischen Schmittlotheim und Kirchlotheim steile Felswände aus dem Edertal zu dem beliebten Ausflugsziel Hagenstein hinauf.

Auf sanft ansteigenden Waldwegen erreicht der Wanderer von Schmittlotheim oder Kirchlotheim aus die ,,Loreley des Edertales" in einer halben Stunde. Vier Wege gehen von hier aus: nach Kirchlotheim, nach Harbshausen, an der Hugoquelle vorbei zur ,,Lichten Eiche" und nach Schmittlotheim.

Der parkartige Platz war früher von einer Fichtenhecke zum Steilhang hin eingerahmt und abgesichert. Ruhebänke laden zum Rasten ein. Der Wanderer wird zunächst den herrlichen Talblick genießen. Tief unter ihm braust der Autoverkehr auf der Bundesstraße 252 vorbei, auf der Bahnstrecke Marburg - Warburg rollten früher die Dampflokzüge. Auf der Eder paddeln Kanuten dem Edersee zu, der bei der eisernen Messbrücke unter dem Hagenstein beginnt. Im Westen glänzen im Gegenlicht die Dächer von Schmittlotheim und ganz fern am Horizont erspäht man den Turm der Liebfrauenkirche von Frankenberg. Ederabwärts liegt Kirchlotheim in der vollen Sonne, grüßt der Hof  "Goldacker" herüber und hört man den Trubel des Campingplatzes Herzhausen. Von oben kann man von hier die Flugspiele von Bussard, rotem und schwarzem Milan bewundern. Wenn man Glück hat, begegnet man im Walde Rotwild, Schwarzwild, Dam- und Muffelwild, denn der Hagenstein liegt innerhalb des Wildgatters, des Wildschutzgebietes Edersee und des Nationalparkes Kellerwald-Edersee.

Auf dem Rondell, im Schatten zweier mächtiger Nordmannstannen, entdeckt der Wanderer einen quaderförmigen Stein, ähnlich den Distriktsteinen, mit der Inschrift: ,,von Hagen, den 27. April 1873." Liegt hier ein Forstmann begraben, oder was bedeuten Namen und Datum? Um es vorweg zu sagen, Graf von Hagen war ein hoher preußischer Forstbeamter, dessen schlichter Gedenkstein diesem schönen Aussichtspunkt seit 1873 den Namen gab: ,,Hagenstein". Bis dahin hatte der felsige Steilhang, an dem kaum ein Baum gedeihen konnte, schlicht und einfach die ,,kahle Ecke" geheißen. Aber begraben liegt er hier nicht. Wir wissen, dass die Herrschaft Itter hessen-darmstädtisches Gebiet war, weit abgelegen vom Mutterland, abgetrennt durch kurhessisches und waldeckisches Territorium. Das musste zwangsläufig dazu führen, dass dieses Gebiet wirtschaftlich und verkehrstechnisch benachteiligt war, vielleicht auch vernachlässigt wurde. Auch die überaus holzreichen Waldungen südlich der Eder, mit prächtigen Buchen- und Eichenbeständen, waren zwar in guter Hege, aber durch Wege fast völlig unerschlossen. So war es leichter, das für den itterischen Kupferbergbau benötigte Grubenholz aus den Battenberger Forsten zu holen, als aus der Oberförsterei Altenlotheim, zumal die Eder ein bedeutendes Hindernis war. Das änderte sich, als Hessen-Darmstadt 1866 die Herrschaft Itter an Preußen abtreten musste, nachdem es an der Seite Österreichs den Krieg gegen Preußen verloren hatte.
Nach dem Wechsel gingen Forstaspiranten und vereidigte Geometer daran, die Wälder der Herrschaft Itter zu vermessen, in Distrikte einzuteilen und ein Wegenetz zu planen. Es war keineswegs so, dass erst die Preußen Ordnung in unsere Wälder gebracht hätten!
Eine erste Vermessung hatte bereits 1835 der Forstkandidat Reiß vorgenommen. Auch eine Distrikteinteilung gab es schon. Doch war die Vermessung unbrauchbar geworden und stimmte mit der Katastervermessung der Jahre 1848 - 1857 nicht überein.
Bei der Waldeinteilung entstanden 141 Distrikte, Im Durchschnitt 16 Hektar groß, der kleinste 8, der größte 27 Hektar. Die heute noch gültige Nummerierung der Distrikte erfolgte von Süd nach Nord, jeweils im Westen beginnend.

Beim Wegebau wurde den Talrandwegen die größte Sorgfalt gewidmet und bei den Berg-Tal-Wegen auf geringe Steigung geachtet. Wo es erforderlich war, wurde mit Schwarzpulver gesprengt, ansonsten wurden alle Arbeiten von Hand verrichtet, mit Schippe, Hacke und Schubkarre. Arbeitskräfte gab es genug. Die Entlohnung für den Zehnstundentag betrug je nach Arbeit zehn bis fünfzehn Silbergroschen.
Die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 unterbrochenen Wegebauarbeiten wurden nach dem Krieg zügig weitergeführt und waren im Frühjahr 1873 im wesentlichen abgeschlossen. Damit war der Zeitpunkt gekommen, dass die geleisteten Arbeiten von höchster Stelle besichtigt und abgenommen werden konnten. Und nun tritt der eingangs genannte Graf von Hagen wieder in Erscheinung, der vielleicht bis dahin unsere Wälder noch nicht gesehen hatte. Nach der Aussage des 1927 verstorbenen Georg Stein von Schmittlotheim, der damals als Laufbursche beschäftigt war, kam der hohe Gast mit einer vierspännigen Kalesche. Nach der Besichtigung versammelten sich alle am Wegebau beteiligten, Forstbeamte und Waldarbeiter, am Nachmittag des 27. April an der Wegekreuzung über der ,,kahlen Ecke". Graf von Hagen zeigte sich sehr erfreut über die geleisteten Arbeiten und sprach Worte der Anerkennung und des Dankes an die Versammelten. Nach einem festlichen Imbiss verließ der hohe Gast die Höhe. Der Name dieses hohen Forstbeamten, der die Aufsicht über die forstliche Erschließung hatte, wäre sicher bald, wie auch das Datum seines Besuches, in Vergessenheit geraten, hätten ihm nicht zwei Forstleute dieses Denkmal gesetzt: den ,,Hagenstein".

Im Jahre 1892 wurde der Forstassessor Hugo Brandt Oberförster in Altenlotheim. Seine Frau sei eine Nachfahrin des Dichters Matthias Claudius (1740-1815) und eine romantische Schwärmerin gewesen, so wird erzählt. Jedenfalls ist zu vermuten, dass sie es war, die ihren Mann dazu anstiftete, den Hagenstein parkartig zu gestalten.
Ein eifrigerer Mitgestalter des Hagenstein war der 1894 nach Kirchlotheim versetzte Förster Brendel, dessen Name heute noch in den Episoden weiterlebt, welche die Holzhauer über diesen strengen Forstmann zu erzählen wissen. (Sein Sohn Eginhard war Studienrat in Kassel und mein Lehrer, als ich dort im Krieg Luftwaffenhelfer war. Er erzählte gern aus seiner Jugendzeit im Kirchlotheimer Försterhaus.) Er war nicht nur Förster, sondern eine Art Naturwissenschaftler und ein großer Sammler. So hatte er auch eine Sammlung aller Losungen der Waldtiere, vom Wildschwein bis zur Waldspitzmaus. Seine Vorliebe für Eichen zeigte sich darin, dass er stets einen Beutel mit Eicheln bei sich trug, um sie mit Hilfe seines Stockes an geeigneten Stellen zu säen. Sein heute noch bekanntes, an die Waldarbeiter gerichtetes Zitat lautete: ,,Der Wald ist mein Haus, und die Bäume sind meine Kinder, und die habt ihr zu schonen!" Schnitt sich ein Waldarbeiter einen Spazierstock und wurde von Brendel erwischt, so schrieb er Ihm einen Holzzettel aus. Unter der Aufsicht Brendels wurden die Anlagen auf dem Hagenstein geschaffen. Die ,,Pflanzebergsfrauen" mussten die Zwiebeln der astlosen Graslilie, die es unter dem Hagenstein gibt, ausgraben und nach oben umpflanzen. Seinem Vorgesetzten zur Ehre ließ er am Weg zur ,,Lichten Eiche" eine Quelle fassen und grottenartig ausmauern. Nach dem Vornamen des Oberförsters Brandt heißt sie noch heute ,,Hugobrunnen". Außer dem Namen ist jedoch nicht mehr viel geblieben. Auch die Goldfische, die sich einmal darin tummelten, sind längst verschwunden.

Auf dem Hagenstein und in seiner Umgebung ließ er Gehölze anpflanzen, die im heimischen Walde noch nicht vorkamen: Nordmannstannen, Douglasien, Weymouthskiefern, Latschenkiefern, eine Berberitze, eine Weichselkirsche, eine Blutbuche und auch eine Edelkastanie, die sich bis heute erhalten hat und ihre Maronen zur Reife bringt. Neben dem Immergrün ließ Brendel auch die Pfingstrose, im Volksmund ,,Dicke Madonnje" genannt und einen Knöterich anpflanzen.
Am Steilhang finden sich die Vertreter des Trockenrasens astlose Graslilie, nickendes Leimkraut, Schwalbenwurz und der geschützte gelbe Fingerhut.

Geologisch gesehen ist der Hagenstein ein Prallhang der Eder, bestehend aus Kulmgrauwacken und Kulmtonschiefern. Gegenüber liegt der, jedem Prallhang zugeordnete, Gleithang, das Mönchsfeld", mit seinen fruchtbaren Lößablagerungen der Eder.
Mit Kennerblick erkannten dies auch die Zisterziensermönche des Klosters Haina und erwarben dieses Gelände, um hier einen Hof in Eigenbewirtschaftung zu begründen.

Was die Äcker des Mönchsfeldes zum Leben boten, gewährten die Steilhänge des rechten Ederufers zum Überleben in Kriegszeiten: Vom Hagenstein läuft eine schmale Bergzunge in Richtung Schmittlotheim und endet in einem, nach zwei Seiten steil abfallenden Bergsporn. Hier finden wir die Überreste einer fränkischen Turmburg, etwa aus dem 8. Jahrhundert, die auf der Bergseite mit einem doppelten Wall- und Grabensystem gesichert war. Seltsamerweise ist für diese Burg kein Name überliefert. An anderer Stelle werde ich diese Burganlage über der "Backofendell" näher beschreiben, doch sollte sie hier im Zusammenhang mit dem Hagenstein nicht unerwähnt bleiben. Doch hat sie mit diesem nichts zu tun.

In alter Zeit war das Ederufer unter der kahlen Ecke fast unpassierbar, weil die Steilhänge fast unmittelbar vom Ederufer aus anstiegen. So schreibt der Kirchlotheimer Pfarrer Neumann um 1720, dass an diesem Hang nur ein Eselspfad entlang führte. Deshalb verlief der Fahrweg von Schmittlotheim nach Kirchlotheim am linken Ederufer entlang, zweimal die Eder mittels einer Furt kreuzend. Da die Schmittlotheimer ihre Toten bei der Mutterkirche in Kirchlotheim bestatteten, war der Leichentransport oft schwierig. So wurde 1697 Sabine, Hans Zölzers Frau von Schmittlotheim (Gippers) "des Eises halber über den Wald bis aufs Hegegras geführt".
Erst durch den Bau der heutigen Bundesstraße, die 1836-1842 als Hessen-Darmstädtische Vizinalstraße von Frankenau nach Korbach gebaut wurde, änderte sich dies. Hierbei erwies sich dieses Teilstück als das schwierigste. Am 21. März 1838 verunglückte an dieser Stelle beim Straßenbau der 17-jährige Heinrich Röse aus Frankenau durch nachrutschendes Gestein tödlich und wurde in Schmittlotheim begraben. Die Straße wurde 1935-36 verbreitert und asphaltiert, 1961 erneut verbreitert und mit Stützmauern und Drahtzäunen gegen Steinschlag gesichert.

Der ,,Hagenstein" war in seiner nunmehr 110-jährigen Geschichte ein beliebtes Ausflugsziel nicht nur für Nachbardörfer. Marburger Studenten und die Frankenberger Seminaristen kamen häufig hierher. Die Schmittlotheimer Schulchronik berichtet von einer sehr schönen Sedanfeier am 2. September 1886 auf dem Hagenstein. Am Gedenktag der siegreichen Schlacht bei Sedan am 1. und 2. September 1871 und zu Kaisers Geburtstag wurden an die Schüler Wecke verteilt. Bei der Sedanfeier auf dem Hagenstein schenkte der Schmittlotheimer Kriegsteilnehmer Adam Stein der Schule 21 Fahnen und eine Trommel.
Für viele Schmittlotheimer und Kirchlotheimer, die die Heimat verlassen mussten, blieb der "Hagenstein" etwa das, was dem Kölner der Dom bedeutet: Inbegriff der Heimat.

So wurde das Hagensteinfest am hundertsten Geburtstag im Mai 1973, welches die Schmittlotheimer Vereine ausgerichtet hatten, ein großartiges Treffen vieler Heimat-, Wander- und Naturfreunde.

Text: Walter Zarges, Schmittlotheim